Monica Peng

 

Mein Filmfestival

Ein Leitfaden, wie man zehn Tage lang Filme essen, atmen und leben kann

Ich weiß, vielleicht ist der Titel übertrieben, denn während des zehntägigen Filmfestivals verbrachte ich genauso viel Zeit mit dem Anschauen von Filmen wie in der Straßenbahn zwischen Mannheim und Heidelberg. Manchmal war diese 40-minütige Straßenbahnfahrt die einzige Pause zwischen zwei aufeinanderfolgenden Filmen. Ich nutzte diese Zeit, um einen Snack aus der Backwarenabteilung von Aldi zu verschlingen und in mein Tagebuch zu kritzeln. Es war chaotisch, ein bisschen anstrengend, aber ich bereue keinen einzigen Moment. Es war eine intellektuell bereichernde, rein immersive Erfahrung mit der Kunst des Kinos. Das Leben war einfach, und ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren, als auf das Filmeschauen und darauf, die Talente dahinter zu entdecken. Ohne den Filmkurs und unseren wunderbaren Dozenten Joachim wäre das nicht möglich gewesen. Als ich mich für den Filmkurs angemeldet habe, hätte ich nicht erwartet, dass wir so viel Freiheit bei der Auswahl unserer Aktivitäten auf dem Festival haben. Ich hatte die Möglichkeit, mit gleichgesinnten Student*innen über Filme zu sprechen, Filmemacher- und Schauspieler*innen direkt Fragen zu stellen, und von bekannten Figuren mehr über die Filmindustrie zu erfahren. Alles war eine außerordentlich wertvolle Gelegenheit für eine Filmstudentin wie mich.

Ein wunderbarer Einblick in die Arbeiten aufsteigender Filmtalente aus aller Welt

Vielleicht war es eine verrückte Idee, aber ursprünglich hatte ich geplant, während des zehntägigen Festivals 20 Filme zu sehen. Mein Grund war, dass die meisten Filme nur eine Festival-Lizenz haben und wahrscheinlich noch lange nicht in kommerziellen Kinos gezeigt werden. Dies wird für mich die einzige Chance sein, dachte ich, diese Filme zu sehen, insbesondere von kleineren, unbekannten Filmemacher*innen. Tatsächlich habe ich 18 Filme aus 15 verschiedenen Ländern gesehen, einige Klassiker, einige neue und experimentelle. Und die Mühen haben sich gelohnt. Natürlich ist es eine Frage der persönlichen Vorlieben, dass ich nicht alle Filme in vollem Umfang genießen konnte. Trotzdem kann ich sie von einem analytischen Standpunkt aus betrachten, und versuche ich zu verstehen, warum bestimmte Techniken verwendet wurden oder welche Richtung die Erzählung genommen hat. Dieses breite Spektrum hat mir einen wunderbaren Einblick in die Arbeiten aufsteigende Filmemacher*innen aus aller Welt gegeben.

Es gab für mich viele Highlights, nämlich Bitten, Die Missetäter und The Red Suitcase. Meiner Meinung nach zeichnet sie alle eine einzigartige Geschichte oder Perspektive aus. Sie regen das Publikum stark zum Nachdenken an. Insbesondere The Red Suitcase, eine ergreifend schöne nepalesische „Geistergeschichte“ über Verdrängung, Ausbeutung von Arbeitskräften und die Bedeutung der Rückkehr in die Heimat, alles vor dem Hintergrund einer Geschichte politischer Unruhen und eines 10-jährigen nepalesischen Bürgerkriegs. Neue Filme von bekannten Regisseur*innen haben mir auch gefallen: Priscilla von Sofia Coppola, All of Us Strangers von Andrew Haigh, Evil Does Not Exist von Ryūsuke Hamaguchi, und Hit Man von Richard Linklater. Ich freue mich darauf, mehr von ihnen zu sehen.

Critical Zone“ ist mein absoluter Lieblingsfilm

Mein absoluter Lieblingsfilm aus dem Programm ist jedoch Critical Zone (2023), Regie und und Drehbuch von Ali Ahmadzadeh aus dem Iran, mit Amir Pousti, Shirin Abedinirad, Maryam Sadeghiyan und Alireza Keymaneshin in den Hauptrollen. Critical Zone feierte beim Filmfestival Mannheim-Heidelberg seine Deutschlandpremiere, und ich hatte das große Glück, den Film am vorletzten Tag des Festivals zu sehen. Der Regisseur und der Produzent Sina Ataeian Dena waren als Gäste anwesend.

Regisseur Ali Ahmadzadeh und Produzent Sina Ataeian Dena

Ein Fenster zur Seele des iranischen Volkes

Der Film folgt dem Drogendealer Amir und seiner Reise durch eine Nacht, in der er Produkte und Dienstleistungen an verschiedene Kunden liefert. Er trifft auf Süchtige auf der Straße, Sexarbeiterinnen, eine Krankenschwester in einem Seniorenheim, eine junge Frau, die das Land verlässt, eine Stewardess in ihrer Pause und eine Mutter, die Hilfe für ihren genesenden Sohn sucht. Amir ist nicht nur ein Drogendealer, sondern auch ein Botschafter und Zeuge für die Notlage der iranischen Gesellschaft über alle Geschlechter, Klassen und Lebensbereiche hinweg. Fast wie ein moderner Prophet. Er ist für uns, das internationale Publikum, ein Fenster zum täglichen Leben und zur Seele der iranischen Bevölkerung. Ahmadzadeh erzählte eine intime und interpersonelle Geschichte über den starken Druck auf die junge Generation.

Metaphern für die paternalistische, erstickende Beziehung zwischen dem Staat und den Menschen

Ich denke, dass der Kauf und Konsum von Drogen eine stille Rebellion symbolisiert, eine Rebellion, die man nur allein durchführen kann, weil das Regime die Organisation und das Zusammenkommen von Menschen unterdrückt. Als jemand, die in China geboren ist und die chinesische Politik aufmerksam verfolgt, kann ich den symbolischen Kampf sehr gut nachempfinden. Wenn man keine wirklichen Maßnahmen gegen eine autoritäre Regierung ergreifen kann, wendet sich die Unterdrückung oft nach innen und wird zu einer selbstzerstörerischen Gewohnheit. Es gibt viele denkwürdige erzählerische Momente, die ich sehr beeindruckend fand. Amir besucht ein Seniorenheim und verteilt Cannabis-Brownies an die älteren Menschen, sicherlich eine Gruppe unerwarteter Kunden. Es gibt einen unmittelbaren Kontrast zwischen den Sprachen und Haltungen der krassen Straßen und den intellektuellen Gesprächen der älteren Menschen. Aber sie brauchen das Gleiche, um sich zu entspannen oder zu entfliehen. Die Parallele besteht darin, dass das Pflegeheim eine kleinere Version der Stadt Teheran ist, in der es nicht viel Begeisterung für das Leben oder Hoffnung für die Zukunft gibt. Durch den gesamten Film zieht sie sich eine weitere Sache: die Stimme von Amirs Navigations-App, die ihm den Weg weist und ihm ständig sagt, er solle links und rechts abbiegen. Es ist eine Stimme, die jeden seiner Schritte befiehlt und kontrolliert. Eine Metapher für die paternalistische, erstickende Beziehung zwischen dem Staat und den Menschen.

Ich bewundere die Hartnäckigkeit, mit der dieser Film zustande kam


Critical Zone hatte keine offizielle Erlaubnis der iranischen Regierung, öffentlich zu filmen - natürlich aufgrund des kritischen und subversiven Inhalts. Die Dreharbeiten im Untergrund stellten die Schauspieler und die Crew vor viele Herausforderungen. Die ruhigen Straßen von Teheran bei Nacht und die Aufnahmen aus einer diskreten Handkamera passen jedoch sehr gut zur Geschichte, da die Figuren auch das tun, was ihnen vom Regime verboten wurde. Ich bewundere die Hartnäckigkeit, mit der dieser Film zustande gekommen ist. Die meisten Mitwirkenden aus dem Produktion-Team von Critical Zone sind große persönliche Risiken eingegangen. Ataeian Dena erzählte, dass sie während der Dreharbeiten zweimal fast verhaftet und häufig verhört wurden. Alle Hauptdarsteller*innen mussten den Iran verlassen, bevor der Film international veröffentlicht wurde. Aber sie haben ihre Beteiligung an diesem großartigen Film als einen Protest aufgefasst. Der Film wurde vor der "Women Life Freedom"-Bewegung von 2022 gedreht, aber seine weiblichen Charaktere sind immer stark, unerschrocken und kraftvoll. Ahmadzadeh erklärte, dass er in seinem Film zum Ausdruck bringen wollte, dass es immer die Frauen sind, die sich am mutigsten gegen den Autoritarismus wehren. Im garstigsten Moment des Films streckt die Stewardess (Shirin Abedinirad) ihren Körper aus dem Schiebedach des Wagens und schreit aus voller Kehle "FUCK YOU", wobei ihr Haar frei im Wind fliegt. Dies wurde vor dem internationalen Flughafen von Teheran gefilmt, wahrscheinlich einem der am stärksten überwachten Orte in ganz Iran. Keine Schauspieler, sagte Ahmadzadeh, hätten sich getraut, das Gleiche zu tun. Trotz der Gefahr war es eine eindrucksvolle Darstellung der Wut, Frustration und Willensstärke des iranischen Volkes, insbesondere der iranischen Frauen.

Masterclass mit Agnès Godard

Ich hatte das Glück, von Agnès Godard, der Kamerafrau, etwas über Beau Travail zu hören. Was ich gelernt habe, hat mich schockiert, aber ich habe diesen Film einfach geliebt. Der Film wurde in den 90er Jahren in Dschibuti mit analogem Filmmaterial gedreht. Sie konnten die meisten Aufnahmen wochenlang nicht sehen, da sie zur Entwicklung ins Ausland geschickt wurden. Viele Szenen waren One-Takes. Deswegen wurde Godard bei ihren Dreharbeiten radikaler. Da sie nicht die Möglichkeit hatte, während des Drehs „Rushes“, also Muster der letzten Aufnahmen anzuschauen, fühlte sie sich auch frei von Urteilen, Selbstzweifeln und Selbstkritik. Ich wollte mehr von Agnès Godard hören, also besuchte ich ihre Masterclass, wo ich mehr über sie und das Filmemachen erfuhr.

„Glaube ich an die Geschichte, die ich jetzt erzähle?“

Im Gedächtnis sind mir folgende Dinge geblieben: Als Kamerafrau legt sie großen Wert auf „Einfachheit”, die sehr schwer zu erreichen ist. Mit Einfachheit meint sie, sich selbst einzuschränken und herauszufordern. Einfachheit bedeutet, das Wesentliche herauszuarbeiten, um die Wahrhaftigkeit eines Ortes / einer Geschichte / einer Person zu vermitteln. Godard sagte, die einzige Frage, die sie sich stelle, wenn sie durch den Sucher einer Kamera schaue, sei: „Glaube ich an die Geschichte, die ich jetzt erzähle?“ Und manchmal bedeutet das, ein Loch in den Boden zu graben, um eine Sexszene von unten zu filmen.

Gibt es einen Unterschied zwischen weiblichem und männlichem Blick?

Es gab auch folgende Frage aus dem Publikum an Godard: Glaubt sie als Kamerafrau, die sich bei vielen Filmen auf männliche Körper konzentriert hat, einen „weiblichen Blick“ zu haben (im Gegensatz zu einer Übersättigung mit einem „männlichen Blicks“ in der Filmindustrie)? Godard sagte, sie glaube nicht, dass es einen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Blick gebe, weil sie alle ihre Subjekte einfach nur als Menschen betrachte und sie auf die gleiche Weise filme. Ich persönlich müsste widersprechen. Ich glaube schon, dass es einen Unterschied gibt. Und meine persönliche Meinung oder Interpretation ist, dass Frauen dazu konditioniert sind, sich von ihrer Sexualität zu distanzieren. Die Erfahrung, einen weiblichen Körper zu bewohnen, ist in einer patriarchalischen Gesellschaft oft entfremdet, und wir werden davon abgehalten, unsere Körperlichkeit und Wünsche zu erforschen. Auf psychologischer Ebene ist es daher tatsächlich einfacher und akzeptabler, die gleichen Vorstellungen zu Erkundungszwecken auf männliche Körper zu projizieren.

Insgesamt war das eine sehr informative und aufschlussreiche Masterclass. Ich werde mir nach dem Festival auf jeden Fall weitere Werke von Agnès Godard ansehen.

Die Kreativität trotz aller Widrigkeiten zu feiern – das ist der Geist und der Sinn eines Filmfestivals

Bei diesen unabhängigen Filmemacher*innen kann ich einige amateurhafte Aspekte in ihren Filmen erkennen, z. B. bei der Kameraführung oder dem Story-Tempo. Aber das lässt mich das Filmemachen als Kunstfertigkeit noch mehr schätzen. Denn die Verwirklichung der eigenen Vision ist ein äußerst schwieriger Prozess. Nicolas Winding Refn sagte, dass es für jede/n Filmemacher*in wichtig ist, ein verzweifeltes und brennendes Bedürfnis nach Ausdruck zu haben, das einen in den Wahnsinn treibt. Das bedeutet, man wird alles tun, um dem Rest der Welt seine Geschichte zu erzählen. Es muss jedoch immer ein Gleichgewicht geben zwischen dem persönlichen Ausdruck und der Aufnahme des Ausgedrückten durch das Publikum. Von der Vorstellung eines Bildes im Kopf, über die Organisation, Produktion und die Dreharbeiten, bis zur Vermarktung und Veröffentlichung erfordert jeder Schritt enorme Arbeit, Hingabe und Vertrauen. Dennoch gibt es immer mehr von uns, die jeden Tag ihr Bestes geben, um diese Leidenschaft am Leben zu erhalten und sie in etwas Reales zu verwandeln. Etwas, das wir anderen zeigen und auf das wir stolz sein können. Und ich glaube, genau ist das der Geist und der Sinn eines Filmfestivals: die Kreativität trotz aller Widrigkeiten zu feiern.

 

Über mich

Ich heiße Monica Peng und studiere Globale Politik und Menschenrechte sowie Film und Medienwissenschaften an der Universität Auckland, Neuseeland. Ich habe früher schon an einigen neuseeländischen Filmfestivals teilgenommen. Vor allem interessiere ich mich für das Potenzial des Films als grenzenlosen Ausdruck menschlicher Erfahrungen, insbesondere für Themen wie politische Freiheit, Geschlechterdynamik und menschliche Psyche.